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Guter Rat ist (un)modern
Die Ratlosigkeit der Moderne und ihre Ratgeber
pp. 147-172
Abstrakt
Die Geschichte der Selbstthematisierung der Moderne ist eine Geschichte der Ratlosigkeit und eine Geschichte von Versuchen, sie zu beschreiben, zu beraten oder gar zu beheben. Ratlosigkeit ist keine der geläufigen Epochen-Formeln, läßt sich aber unschwer als gemeinsamer Nenner der unterschiedlichsten Beobachtungen der Moderne ermitteln. Das Vertrackte solcher Beobachtungen ist, daß ihre Befunde stets noch zu der Befindlichkeit beigetragen haben, die sie diagnostizieren. Die moderne Ratlosigkeit ist bedingt durch den gesellschaftlichen Status des Wissens, der sich kennzeichnen läßt durch eine strukturelle Diskrepanz zwischen (wissenschaftlichem) Wissenszuwachs, Beschleunigung des (gesellschaftlichen) Informationsflusses und ›Kursverlust‹ der (individuellen) Erfahrung. Das Stichwort stammt von Walter Benjamin, der den Verlust des Vermögens, »Erfahrungen auszutauschen«, konstatiert: die Erfahrung sei »im Kurse gefallen«, die »Mitteilbarkeit der Erfahrung« sei geschwunden — »… Infolge davon wissen wir uns und anderen keinen Rat«.2 Benjamins Porträt des Romanciers — er bekunde »die tiefe Ratlosigkeit des Lebenden« — läßt dessen Lage als Extrem moderner Individualität erscheinen. ›Ratsame Erfahrung(en)‹ meint wohl: lebensgeschichtlich erworbenes, individualisiertes und konkretisiertes — also auf empirischer Primärbeobachtung basierendes — Weltwissen, das auf andere Lebensgeschichten übertragbar, in anderen Situationen und Kontexten anwendbar und hilfreich ist (was aufgrund der polykontexturalen Ausdifferenzierung von Erfahrungskontexten in der Moderne zunehmend problematisch wird).
Publication details
Published in:
von Graevenitz Gerhart (1999) Konzepte der Moderne. Stuttgart, Metzler.
Seiten: 147-172
DOI: 10.1007/978-3-476-05565-1_8
Referenz:
Helmstetter Rudolf (1999) „Guter Rat ist (un)modern: Die Ratlosigkeit der Moderne und ihre Ratgeber“, In: G. Von Graevenitz (Hrsg.), Konzepte der Moderne, Stuttgart, Metzler, 147–172.